Mahina
Die Hexe war sich zuerst nicht sicher, wohin sie sich teleportieren sollte, dann entschied sie sich, die Suche im Wachhaus, bei Ryans und Sofies Wohnung zu beginnen. Sie vermutete, dass Beide dort zu finden waren. Als sie am Stadtplatz, direkt vor dem Eingang des Wachhauses erschien, hörte sie Stimmen hinter sich und als sie sich umdrehte, entdeckte sie Corax, der gerade von einem Fremden geweckt wurde. Hatte Corax am Brunnen geschlafen? Mahina kniff die Augen zusammen, im Versuch zu erkennen wer der Fremde war. Sollte sie Corax zu Hilfe kommen, war er in Gefahr?
Bevor Mahina zu einer Entscheidung kommen konnte, spürte sie wie sie von ihren Beinen gerissen wurde. Ihre Erwartung, gleich mit dem Hintern hart auf dem Boden aufzuschlagen, wurde aber nicht erfüllt. Denn starke Hände hatten sie an den Schultern gepackt und festgehalten. Gefolgt von stammelnden Entschuldigungsversuchen blickte Mahina in blaue klare und vorallem vertraute Augen, in denen sie sich schon einmal unsäglich verloren hatte. Doch nun waren diese Augen von kleinen Fältchen eingerahmt und angegrautes Haar hing ihm ins Gesicht. „Dylan“ sagte sie überrascht und ihr verräterisches Herz machte einen kleinen Satz, gefolgt von einem merkwürdigen Gefühl in ihrem Bauch.
Er hatte sie seit zwanzig Jahren nicht mehr gesehen, doch sie hatte noch vor wenigen Wochen für ihn geschwärmt und ihr Herz beinahe an ihn gänzlich verloren. Erinnerungen kamen ihr in den Sinn, die für sie noch so jung waren. Das Lagerfeuer, an dem sie gesessen hatten, nachdem Dylan und Ethan ihre Auseinandersetzung hatten. Das Tanzfest, an dem sie sich für diesen Mann besonders hübsch machen wollte, um seine Aufmerksamkeit zu erlangen. Konnte er sich noch an all das erinnern?
Mahinas Gesicht wurde bleich und die Erkenntnis erschlug die junge Hexe förmlich. Erst jetzt war ihr klar geworden was es bedeutete dass 20 Jahre ins Land gezogen waren. Natürlich hatte es sie geschockt, als sie das kleine Baby Sofie als erwachsene Frau gesehen hatte und auch Corax hatte nur noch wenig von dem kleinen pausbäckigen kleinen Jungen, den sie mit seiner Schwester in die Stadt geschickt hatte. Und doch schien die Bedeutung erst jetzt in ihrem Herzen angekommen zu sein, jetzt, als sie den 20 Jahre älteren Mann vor sich sah, der sie nun fast schon väterlich anlächelte.
„Alles ok mit dir?“ formten seine Lippen, doch Mahina hörte die Worte nicht sinnerfassend. Dennoch nickte sie und bewegte sich selbst zu einem kleinen aber neutralen Lächeln. Es wurde Zeit dass sie aus ihrer Starre wieder erwachte. Erst jetzt bemerkte sie auch, dass sie sich offenbar automatisch an seinen Oberarmen festgeklammert hatte, um den Halt nicht zu verlieren. Sie ging zwei Schritte zurück und bemerkte nur peripher dass er die zwei Schritte folgte und somit den Abstand nicht zuließ, den sie sich im Moment wünschte. Ausserdem spürte sie einen Schmerz in ihrem gerade geheilten Knöchel. Sie muß wohl erneut umgeknickt sein, als Dylan sie über den Haufen gerannt hatte. „Hattest du es eilig?“ fragte sie mit etwas mürrischem Ton. Warum mußte sie auch ausgerechnet Dylan in die Arme laufen? Sie wollte ihn nicht sehen! Zu sehr hatte er sie mit seinem Verhalten verletzt.
„Es tut mir leid. Ich war in Gedanken wo anders“ erklärte Dylan mit charmantem Lächeln, das in Mahina ein altbekanntes Kribbeln wachrüttelte. Oh man, kannst du bitte jemand anderen so anlächeln? knirschte sie in Gedanken, woraufhin ihr Blick noch mürrischer wurde und was in Dylan etwas Verwunderung auslöste, es ihn aber offensichtlich auch amüsierte. „Wirklich alles ok mit dir?“ fragte er noch einmal, da er ihren Blick zwar richtig vermutete, aber gerne die Bestätigung dafür bekäme. Mahina nickte jedoch nur erneut. Dylans Lächeln wurde dünner, er war sich klar darüber, warum Mahina ihm die kalte Schulter zu zeigen versuchte und ihm war aufgefallen, dass sie ihm seit ihrer Erwachung aus dem Weg gegangen war.
„Eilig hab ich es eigentlich nicht, ich….“ meinte Dylan und wollte ihr damit verstehen zu geben, dass er für sie Zeit haben würde. Doch Mahina erkannte noch vorher was Dylan sagen wollte, weshalb sie ihn gleich unterbrach „ Ich bin nicht wegen dir hier, ich bin auf der Suche nach Ryan und Sofie“ erklärte sie und war stolz darauf, wie eisig ihre Stimme klingen konnte. Gleichzeitig passierte etwas mit ihrer Körperhaltung. Sie schob die Schultern zurück und hob das Kinn fast unmerklich an und diese kleine offensichtliche Veränderung gab ihr etwas mehr Selbstvertrauen, mit dem sie Dylans Lächeln besser ertragen konnte. „Und Corax natürlich“ erklärte sie, doch da fiel ihr auch wieder ein, bei was Dylan sie unterbrochen hatte. Mahina drehte sich um und entdeckte Corax mit erhobenem Schwert, das er auf den Fremden richtete. Doch nicht Corax war es, der in Bedrängung geriet, sondern der Fremde. Mahina beschloss, dass Corax alles im Griff hatte und wandte sich wieder Dylan zu. Offenbar hatte er die junge Hexe nicht aus den Augen gelassen und sie während sie gedanklich bei Corax war, in aller Ruhe gemustert.
„Sofie und Ryan sind nicht da“ erklärte Dylan mit seinem Lächeln, das langsam an Kraft verlor, wie Mahina zufrieden feststellte. Wie fühlt es sich an, abgewiesen zu werden, hm? dachte sie, als sie sein schwindendes Lächeln bemerkte. „oder sie schlafen noch. Auf jedenfall ist es ziemlich ruhig oben“ meinte der Hexer und beobachtete Mahina unverhohlen weiter. Dylan war nicht blöd. Er wußte dass dieses Aufeinandertreffen für Mahina alles andere als angenehm war. Für ihn waren es schon zu viele Jahre her, als er damals bemerkt hatte, dass die Hexe ihm mehr Zuneigung entgegen brachte, als er damals fähig gewesen wäre zu erwidern. Doch jetzt, wo sie vor ihm stand, als er ihr in ihre schwarzen Augen blickte, wurden Erinnerungen wach, an die er schon so viele Jahre nicht mehr gedacht hatte. Dylans Blick wanderte zu Mahinas Nasenspitze, ein verträumtes Lächeln erschien auf seinen Lippen, als er daran dachte wie und unter welchen Umständen er Mahina zum ersten Mal gesehen hatte.
Mahina bemerkte wie sein Blick auf ihrer Nasenspitze verweilte und auch sie erinnerte sich daran, wie sie den jungen Dylan damals kennen gelernt hatte. Er hatte im Wald mit seinem Schwert trainiert und sie war ihm direkt in die Schwertspitze gelaufen. Um ein Haar hätte er ihre Nasenspitze mit einem Hieb abschlagen können, doch Dylan hatte seinen Körper und seine Bewegungen im Griff. Mahina schluckte in der Erinnerung an seinen Körper. Er war durchtrainiert gewesen und am Oberkörper nackt. Schweißperlen hatten seine Haut benetzt und von der Anstrengung des Trainings gezeugt. Mahinas Blick wanderte automatisch zu seiner Brust. Ob er auch heute noch so durchtrainiert war? Beherrschte er auch heute noch so seinen Körper, wie damals?
Erschrocken von ihrem eigenen Gedanken blickte Mahina wieder hoch zu Dylan. Sein Grinsen gefiel ihr jetzt gerade überhaupt nicht und irgendwie hatte sie das Gefühl, er wüsste genau worüber sie nachgedacht hatte. Die Röte in ihren Wangen würde den Hexer in seiner Vermutung auch bestätigen und so räusperte sich Mahina schnell um nach den richtigen Worten zu suchen. „Ok, dann,… dann werd ich wohl…“ meinte sie mit brüchiger und nervöser Stimme, ohne zu wisssen auf was sie hinaus wollte. Was sollte sie jetzt tun? Sie wollte von hier weg, sich aus seinem Blick davon stehlen und alleine sein. Die Begegnung mit ihrem alten Schwarm hatte ihr zugesetzt. Oh gott! Gut das Zaron ausserhalb der Stadt war und mich jetzt nicht sieht! Was würde er wohl nur denken! dachte sie sich und gleichzeitig fragte sie sich auch, ob es Zaron überhaupt Recht war, dass Dylan ihr so nah stand. Beinahe Brust an Brust. Doch diesen Gedanken verscheuchte Mahina, hatte sie denn schon wieder vergessen, dass Zaron ein trauender Mann war? Ein Mann, der seine große Liebe verloren hatte? Zaron und sie hatten eine rein platonische Freundschaft. Und das durfte sie auch nicht ändern. Niemals. Sie wußte, sie würde ihre Freundschaft damit zerstören.
Als Mahina den Blick von Dylan suchte, fühlte sie sich abermals beobachtet und jetzt reichte es ihr auch. Sie ging endlich einen Schritt zurück, um Abstand zwischen Dylan und sich zu bringen. Was fiel ihm eigentlich ein, sie so in Verlegenheit zu bringen? „Ich denke, ich sollte gehen.“ sagte sie schließlich schlicht in die Stille hinein. Ihre Stimme war immer noch eisig und auch ihr Blick zeugte von Kühle und Distanz. Sie hatte sich nach seiner Nähe so sehr verzehrt. Sie wäre überglücklich gewesen, wenn er ihr einmal gezeigt hätte, dass ihre Schwärmerei, ihre Hoffnung auf mehr nicht endlos unerwidert bleiben würde. Er hatte mit ihr geflirtet. Nicht oft und auch nicht viel, aber er hatte ihre Nähe zugelassen. Er hatte sie dazu verführt, sich Hoffnungen zu machen.
Mahina blickte Dylan noch einmal an und ihr war nicht bewußt, wieviel von ihrer Verletzung und Enttäuschung darin liegen würde, doch Dylan sah es und sein Lächeln verblasste gänzlich und machte einer Betroffenheit platz. Dylan wurde es in diesem Moment ebenso klar, wie Mahina es Minuten vorher bereits erkannt hatte. Für Dylan war das alles 20 Jahre her, er hatte Zeit gehabt sich mit allem auseinander zu setzen, sein Leben zu regeln, sich in die Gemeinschaft zu integrieren und seine Gefühle zu ordnen. Mahina aber, war vor wenigen Tagen erst erwacht. Für sie war die Vergangenheit noch keine Vergangenheit. Sie gehörte noch zu ihrer Gegenwart. Wieviele Tage waren für Mahina seit der Tanzfeier vergangen, an dem sie sich so chic für Dylan gemacht hatte? Von dem sie sich so viel erhofft hatte? Waren es zwei Wochen, vielleicht drei?
Während Dylan dieser Erkenntnis gedanklich nachhing, spürte er wie Mahina an ihm vorbei ging. „Mahina, warte“ sagte er noch, doch die Hexe schritt an ihm vorbei und wandte sich nicht mehr nach ihm um. Deswegen bemerkte sie auch nicht, wie Dylan damit kämpfte, nicht nach ihrer Hand zu greifen um sie aufzuhalten. Aber sie hatte sein Gesicht gesehen, Verwirrung und Enttäuschung lag darin und ihr Groll, den sie vor ihrer Versteinerung für Dylan gehegt hatte, genoss zum ersten Mal so etwas wie Befriedigung.