02.Kapitel: Es gibt Tage da habe ich Angst, all die Farben zu vergessen, die du mir gabst
Abigail nahm die Schlüssel und verließ das Haus. Ihr Ziel war die Innenstadt, in der sie mit ihren Freundinnen verabredet war.
Ihre Schritte waren beschwingt, fast mochte man sagen, federleicht. Sie lächelte, summte leise zu der Musik, die aus den Kopfhörern ihres IPods erklangen und tänzelte den Gehweg entlang. Die Blicke der Passanten, die teils neugierig, teils abstoßend auf sie wirkten, übersah sie.
Im Zentrum der Stadt angekommen suchte sie mit den Augen ihre Freundinnen und entdeckte diese auf einer Bank vor ihrer Lieblingspizzaria.
„Abby“ Nathi winkte sie. Das zierliche Girl mit den Rasterzöpfen, den ausgefransten Jeans, Nietenstiefeln so wie den vielen Nietenarmbändern und Gürteln grinste ihrer Freundin entgegen.
Abigail lachte, als sie auf die drei Mädchen zu ging und eine nach der anderen umarmte.
Lulu und Tamara waren Zwillinge, sahen jedoch völlig unterschiedlich aus. Während Lulu die Flippigere war und oft ihren Kleidungsstil ändere, mal von schlicht auf ausgefallen und dann wieder kunterbunt, blieb Tamara ihrer Lieblingsfarbe rot treu. Egal was es war: es musste alles in Rot sein. Oft sah sie aus wie eine leuchtende Kirsche.
„Und, was machen wir? Komm schon, Abby; du hast doch immer so super Ideen.“ Die hübsche Blondine schmunzelte schelmisch, während sie in ihrer kleinen Umhängetasche nach Zigaretten kramte. „Letze Woche war doch die Eröffnung von diesem neuen Club am Stadtrand. Ich habe meine Connections mal spielen lassen und – für morgen den Club gebucht; inklusive VIP Lounge. Im Übrigen habe ich abgecheckt, wer da so alles auf der Gästeliste steht –“
Die Mädchen sahen sie gespannt an, ehe sie geheimnisvoll sagte: „Könnt ihr euch noch Matt Brenden erinnern?“
„Hm, ja – “, kam es langsam von Lulu und auch die anderen Mädchen sahen aus, als könnten sie sich dunkel an ihn erinnern.
„Der ist zufälligerweise dort Inhaber, also Clubbesitzer und –“ Mehr brauchte sie gar nicht sagen, denn die Mädels kreischten auf und Abigail lachte. Sie hatte gewusst, dass ihr diese Überraschung gelingen würde.
„Matt hat dir die VIP klar gemacht? Aber wie –“, fragte Lulu aufgeregt und neugierig zugleich.
„Hm, sagen wir mal so – ich habe ihm ein Angebot gemacht, dass er unmöglich ausschlagen konnte.“ Abigail zwinkerte, während sie sich endlich ihre langersehnte Zigarette anzündete und den ersten Zug tat.
Das Rauchen war eine tiefe Befriedigung für sie, etwas, an dem sie sich festhalten konnte, wenn auch nur für kurze Zeit.
Den blauen Rauch langsam und genüsslich inhalierend sah sie zu, wie ihre Freundinnen wie ein verrückter Hühnerhaufen kicherten und sich tierisch freuten.
„Oh Abby, du bist die Beste. Das wird so der Hammer werden. Wir vier in der VIP Lounge, die Typen kleben alle an uns, wir feiern bis der Arzt kommt, die Getränke und – oh man, das wird der Wahnsinn.“ Nathi geriet total ins Schwärmen, während es die anderen beiden ihr gleich taten. Nur Abigail selbst hielt sich zurück. Sie dachte an jenen Abend zurück – an den Abend, als sie die VIP Lounge bekommen hatte – zu einem sehr hohen Preis, wie sie wusste.
Abigail betrat die dunkle Straße. Ihre hohen Absatzschuhe hallten laut in der sternklaren Nacht wider. Sie fröstelte, denn der Oktober war nicht gerade warm und das Laub nass und rutschig. Das junge Mädchen von etwa fünfzehn Jahren war alleine unterwegs. Ihr Stiefbruder Jayden, der drei Jahre älter als sie war, schien diesen Abend mal wieder unterwegs zu sein. Seit einiger Zeit verhielt er sich seltsam. Er schloss sich in seinem Zimmer ein, kam kaum noch raus oder war bis spät abends unterwegs.
Oft musste sie sich für ihn eine Ausrede einfallen lassen, warum ihr geliebter Stiefbruder nicht bei den gemeinsamen Abendessen dabei war. Ihre Eltern schienen zwischen Verzweiflung und Wut nicht mehr zu wissen, was sie mit ihm anstellen sollten. Seitdem sein Vater ihre Mutter vor knapp drei Monaten betrogen hatte, lief alles aus dem Ruder.
Jayden war, nachdem er dies beim Auszug seines Vaters mitbekommen hatte, völlig ausgerastet. Er hatte den Vater wutendbrand zur Rede gestellt, doch keine Antwort auf all seine Fragen erhalten. Als er auch noch mitbekam, dass dieser mit der Sekretärin des Chefs gevögelt und somit geschwängert hatte, waren bei ihm sämtliche Sicherungen durchgebrannt. Seiner Stiefschwester zu Liebe hatte er sich zurück gehalten und seinem Vater keine rein gehauen.
Stattdessen war er wütend abgerauscht und erst im Morgengrauen sturzbetrunken wieder aufgetaucht und das auch noch am Fenster seiner Stiefschwester, die das alles andere, als lustig fand.
Doch sie hatte ihn gedeckt und nie ein Sterbenswörtchen über seine, immer häufigeren Nachtzüge, verloren.
Jetzt war sie es, die unterwegs war, die ihren Spaß suchte und ihn auch fand – auf eine andere Art und Weise, als ihr Stiefbruder dies tat.
Abigail bog in eine Seitenstraße ein und fand sich dann an einem Club wieder – einem Szene-Club. Sie blieb kurz stehen und sah sich um, ehe sie die Straßenseite wechselte und auf den Club zu ging. Davor standen drei Türsteher, die sie schon von weitem interessiert musterten.
„Na, Mäuschen. Was treibt dich denn hier her?“, fragte ein bulliger Typ und grinste sie schief an.
Sie wirkte erst etwas unsicher, doch dann hob sie das Kinn und begann selbstsicher – ja fast schon lasziv – zu lächeln. „Ich denke, dass wissen wir beide ganz genau, oder?“, fragte sie ohne mit der Wimper zu zucken.
Einer der drei Männer lachte auf. „Bobby, sie will dich flachlegen. Hey, Schnecke, also wenn du das so siehst, dann –“, doch er wurde unterbrochen.
„Pass mal auf, Mäuschen: das hier ist ein Szene-Club, in dem du noch nichts zu suchen hast und ich rate dir –“
Abigail hatte gewusst, dass sie so nicht an ihr Ziel kommen würde, als musste sie zu härteren Mitteln greifen. Sie näherte sich dem Typen, der wie ein Schrank aus massiger Muskelmasse auf sie wirkte und kam seinem Gesicht ganz nahe, während ihr Körper sich an seinen presste.
Ihre Hand wanderte nach unten, während sie ihm fest in die Augen sah und dann seinen überrascht-freudigen Ausdruck in den Augen wahr nahm. Ein leises Keuchen entrann ihm.
Abigail lächelte. „Noch Fragen, warum ich hier bin?“ Sie ließ von ihm ab, während der bullige Türsteher sich nur langsam erholte und den Kopf schüttelte. Er deutet mit einer Kopfbewegung zum Eingang. Abigail lächelte und wandte sich um. Festen Schrittes betrat sie den Club. Jetzt war es nur noch eine Frage der Taktik, der Überzeugung und der Willenskraft, bis sie an ihrem Ziel angekommen war. Ihr Lächeln war sexy und heiß – doch ihre Gedanken waren kalt und leer. Die Bedingungen, die hier gestellt wurden, waren hart, doch Abigail war es gewohnt. Sie wusste, auf was sie sich einließ. Auch wenn der Preis sehr hoch werden würde.
„Oh, Abby, du musst mir unbedingt sagen, wer alles auf der Gästeliste –“ Tamara wirkte total aufgeregt und auch die anderen beiden waren nicht minder begeistert von dem bevorstehenden Club-Besuch.
„Keine Sorge, ich werde es euch schon noch sagen, aber erst mal sollten wir nach neuen Outfits suchen, oder? Ich weiß, dass dort wohl einige Stars wie Paris Hilton auftauchen werden und –“ Das Kreischkonzert ihrer Freundinnen nahm Überhand an, was sie grinsend in Kauf nahm.
„Also, kommt ihr jetzt mit? Und denkt dran: es ist die Party des Monats!“ Ihre Freundinnen nickten eifrig. Man hakte sich unter und zu viert begaben sie sich in sämtliche Kaufhäuser, um die neusten Trends abzuchecken.
Während seine Stiefschwester mit ihrer Erinnerung zu kämpfen hatte und sich dennoch einen schönen Shopping Tag gönnte, war Jayden gerade dabei seine Selbstbeherrschung unter Kontrolle zu bekommen.
Die Jungs hatten einige ruhige Stunden miteinander verbracht, doch jetzt schien sich etwas zusammenzubrauen, das dunkler als ein Sturm war.
Alex, Nathan, John und George probierten gerade einige neue Stunts auf ihren Skateboards aus, als Johns Handy zu klingeln anfing. Er ging ran und schien einen Moment zu zuhören, ehe alle Farbe aus seinem Gesicht wich.
„Hey, was ist – “, fragte Nathan und klang beunruhigt, während die anderen sich dem bleichen John näherten.
Nur Jayden blieb absichtlich etwas im Hintergrund. Er ahnte, nein wusste bereits, was los war.
„Das-das ist –“ Mehr hörte man von John nicht. Ein Wutschrei war zu hören, ein Brüllen wie das eines Tigers und John hechtete auf Jayden los. Dabei verzerrte sich sein Gesicht vor Wut.
„Du Schwein, du verdammtes, mieses Schwein. Wie kannst du –“ Jayden wollte zurückweichen, doch blieb er stehen und sah seinen Freund verständnislos an. Innerlich wusste er jedoch, was los war.
„Ich weiß echt nicht, was –“, begann er, doch John brüllte wie ein Irrer drauf los: „Du hast mit ihr gefickt, du hast mit meiner Freundin gefickt und ihr Versprechungen gemacht, ihr gesagt, dass du sie liebst und dann hast du sie eiskalt abserviert.“ Schwer atmend stand John da und sah zu Jayden, der total gelassen wirkte. Seine Mundwinkel zuckten.
„Ich weiß echt nicht, was –“, doch John fuhr ihm einfach über den Mund, in dem er schon wieder brüllte: „Du weißt genau, was los ist. Du hast dich mit ihr getroffen, vor einer Woche; sie hat es mir eben erzählt und dann hast du sie flachgelegt und nachdem hast du ihr gesagt, dass sie nur ein billiges Flittchen wäre, das zu dumm sei –“
Jayden hatte Mühe sein Lachen zu verbergen. Wie viele seiner Spielchen würde John wohl noch aufdecken, bevor er zu Grunde ging?
Seit mehr als drei Monaten ging das nun schon so zwischen ihm und seiner Freundin Clarissa und irgendwann war Jayden das Gestreite einfach leid gewesen. Er hatte den Verständnisvollen, den Fürsorglichen für Clarissa gespielt und dafür etwas bekommen, das er nicht abschlagen wollte. Bis jetzt war alles gut gegangen, doch nun schien die gute Clarissa doch Wind von der Sache bekommen zu haben und hatte es John gesteckt.
Armes Ding!, dachte Jayden belustigt, als er an ihre Hilflosigkeit dachte, mit der er sie unter Druck gesetzt hatte.
„Ich weiß wirklich nicht –“, doch John unterbrach ihn einfach. „Ohne Scheiß, was ist eigentlich los mit dir, Jay, hm? Erst vögelst du meine Freundin, dann brüllst du ständig rum und jetzt tust du den Verständnisvollen? Was soll das?“ Sein Kumpel sah ihn abwartend an, doch Jayden schwieg.
Das Spiel hatte begonnen, so wie er es vorher gesehen hatte und er wusste, dass es nur noch eine Frage der Zeit war, bis es seinen Höhepunkt erreicht hatte.
„Nichts. Was soll los sein? Ich bin immer noch der Alte, okay?“
„Nein, das bist du nicht. Das bist du schon lange nicht mehr, Jay. Du bist total verschlossen, bist nur noch aggressiv und schlecht gelaunt und wenn man dich darauf anspricht, blockst du ab. Jay, wir kennen uns jetzt schon so lange, also sag, was Sache ist, verdammt!“
Alex, Nathan und George hatten bisher schweigend mit angesehen, was abgelaufen war, doch nun mischten sie sich auch ein.
„Ja, man; sag schon was los ist?“, bohrte nun auch Alex nach. Jayden spürte die Blick auf sich, die neugierig wirkten. Er ging jedoch auf Distanz.
„Nichts ist los. Ich habe einfach nur einen schlechten Tag, okay?“, wiegelte er ab und hoffte, dass damit das Thema vom Tisch sei, doch das war es nicht.
„Jay, du hast andauernd schlechte Tage – und du bist ganz sicher keine Frau. Also lass den Scheiß und erzähl was Sache ist.“ George kam ihn nahe, zu nahe.
„Was ist los, Mann?“, fragte er ihn und dann passierte es. Aus dem Reflex heraus hob Jayden die Faust und – schlug zu.
George taumelte rückwärts, hielt sich stöhnend die Nase, aus der bereits Blut tropfte. Die anderen Jungs begannen wie wild umher zubrüllen.
„Bist du völlig bescheuert?“
„Warum machst du das?“
„Jay, was ist in dich gefahren, man?“
Fassungslos starrte er seinen Freund an, dem er soeben einen heftigen Faustschlag mitten ins Gesicht verpasst hatte.
Erschrocken wich Jayden zurück. „Du kleiner Pisser. Was ist los mit dir? Seit wann schlägst du einen guten Freund?“, fauchte George und hielt sich immer noch die blutende Nase. Auch die anderen verstanden es nicht.
„Jay, warum –“, fing Nathan an, doch der Angesprochene drehte sich nur weg und begann zu rennen. Er rannte die Straße entlang, immer weiter. Die Rufe ließ er hinter sich zurück, blendete sie so gut es ging, aus. Seine Gedanken kreisten und eine Wut stieg in ihm auf, die er kaum mehr zu bändigen wusste.
Erst als er endlich zu Hause ankam, die Haustür aufschloss und so schnell wie möglich in sein Zimmer ging, kam er zur Ruhe. Doch nur äußerlich, denn innerlich brannte alles in ihm.
Vor Wut schrie er umher und packte ein Wasserglas, das auf seinem Nachttisch gestanden hatte. Er schleuderte dies gegen die Wandseite seines Zimmers, wo es in tausend Einzelteile zersprang.
Jayden hatte es so satt sich vor allen zu rechtfertigen, ihnen Rede und Antwort zu stehen. Sie sollten ihn alle in Ruhe lassen.
Ein Hass loderte in seinem Körper auf, der ihn vor Wut erzittern ließ. Doch das Spiel, welches er gerade erst begonnen hatte, war noch nicht vorbei. Nein, es fing gerade erst an.
Jayden schmiss sich aufs Bett und starrte aufgewühlt an die Zimmerdecke. Was tat seine Stiefschwester wohl gerade? Er dachte an sie – dachte an das Gespräch von heute Morgen. Warum zum Teufel hatte sie ihn so aus der Fassung gebracht? Ahnte sie, was er vor hatte? Ahnte sie, was in ihm vor sich ging?
Er hoffte nicht, denn wenn ja, dann würde es auch hier bald zu etwas kommen, dass er nicht mehr unter Kontrolle hätte.
Er hatte Angst. Angst davor all das zu vergessen, was ihm seine Stiefschwester je geben hatte. All die Liebe, die Farben, die diese Liebe mit sich brachte. Diese Tage waren schon seit ein paar Monaten da und er hatte an bestimmten von ihnen Angst. Angst, diese zu vergessen – sie zu vergessen.
Beladen mit Einkaufstüten begab sich Abigail nach einer ausgedehnten Shoppingtour nach Hause zurück. Sie liebte es, wenn ihre Freundinnen die Ratschläge, die sie ihnen gab, annahmen und sich darüber freuten, sie als Freundin zu haben. Die Party im Club von Matt würde morgen sicherlich ein voller Erfolg werden.
Zufrieden mit sich und ihrer Welt schloss sie die Tür auf. Ihre Einkäufe ließ sie achtlos in der Diele liegen, während sie ihre Schuhe abstreifte.
Auch wenn sie ihre Erinnerung an damals während dem Treffen mit ihren Freundinnen nicht verdrängen konnte, hatte sie die Abwechslung dennoch genossen.
Doch kaum war sie alleine, drängten sich diese Gedanken wieder in den Vordergrund. Nur mit Mühe gelang es ihr, sie zu verscheuchen und an etwas anderes zu denken. An ihn zu denken – an Jayden.
Von oben hörte sie undeutlich eine Tür auf und zu gehen, dann folgte ein lauter Schlag und dann wieder Ruhe.
Abigail war neugierig geworden. Langsam zog sie ihre Jacke aus, streifte sich die Schuhe von den Füßen und betrat die Treppen nach oben in den ersten Stock. Hier herrschte Dunkelheit, so dass sie das Flurlicht anschaltete.
Sie lauschte einen Moment, doch nichts war zu hören. Misstrauisch geworden, woher oder eher gesagt, wer denn da die Tür so geknallt hatte, ging sie langsam den Flur entlang.
Ihre Mutter, so wusste sie, war vor etwa einer Woche weg geflogen – geschäftlich – und somit waren ihr Stiefbruder und sie alleine zuhause, was keineswegs schlecht war. Denn wenn ihre Mutter mal da war, dann gab es oft Zoff zwischen ihnen. Ihre Mutter fühlte sich mit zwei, doch schon erwachseneren Kindern, oft so sehr überfordert, dass sie nicht wusste, wo ihr der Kopf stand.
Manchmal fühlte sich Abigail schuldig, aber nicht immer. Sie wusste, dass ihre Mutter nichts von dem ahnte, was sie durchmachte. Und das sollte auch so bleiben. Die junge Frau ging, ganz in Gedanken versunken, den Flur weiter entlang und blieb dann vor der Zimmertüre ihres Stiefbruders stehen.
Zaghaft klopfte sie. „Jayden?“
Nichts rührte sich. Sie drückte die Klinke herunter und öffnete die Tür langsam. Das Zimmer ihres Bruders war normalerweise recht ordentlich, doch jetzt vielen ihr die zerwühlten Bettsachen auf, ebenso wie die, auf dem Boden verteilten Glassplitter. Was war geschehen?
Langsam trat sie ein, drehte sich jedoch schnell wieder um, als sie im Bad vorne Geräusche hörte.
Es klang, als hätte jemand etwas zu Boden geschmissen. Langsam ging sie auf die Tür zu und drückte die Klinke hinunter – abgeschlossen.
Sie klopfte. „Jayden? Bist du das?“
Von drinnen war kein Mucks zu hören, nicht ein Laut. Wieder klopfte sie, dieses Mal lauter.
„Jay?! Was machst du da? Komm schon, sag –“
„Abby, verschwinde!“ Die Stimme ihres Stiefbruders klang nicht besonders gut gelaunt, um ehrlich zu sein, klang sie aggressiv und – kalt.
Etwas, das Abby so nicht von ihm gewohnt war. Doch sie ließ sich nicht täuschen, sondern blieb standhaft.
„Nein, ich werde nicht gehen. Ich werde – hier sitzen bleiben und so lange warten, bis du raus kommst und mir erklärst, was los ist!“ Sie klang trotzig.
Drinnen hörte sie undeutlich, wie ihr Stiefbruder anscheinend resigniert aufseufzte.
„Abby, mach keinen Scheiß und verschwinde.“
„Nein!“ Und damit sie es ernst meinte, setzte sie sich vor die Tür, lehnte sich dagegen, zog die Beine an den Oberkörper und bettete das Kinn darauf.
Einige Minuten geschah rein gar nichts – es herrschte Stille. Unangenehme, drückende Stille.
„Jay?“, fragte sie nach einer Weile, als sie nichts mehr aus dem Badezimmer vernahm. Kein Geräusch war zu hören. „Jayden?“ Ihre Stimme klang besorgt, drängend, fast hysterisch.
„Brüll nicht so rum!“, kam die etwas leiser, gedämpfte Stimme des jungen Mannes. Abigail zuckte kurz zusammen, als sie diese vernahm. Sie klang ganz dicht bei ihr, so als wenn er neben ihr sitzen würde, doch das tat er nicht.
„Was-was machst du?“ Ihre Stimme zitterte leicht, als sie diese Frage stellte und ihre Hand ballte sich zur Faust, an der die Knöchel langsam weiß hervor treten.
Von drinnen hörte sie leises Lachen. „Ich sitzt mit dem Rücken zur Tür!“, kam die dumpfe Antwort, die Abigail leise ausatmen ließ.
Er tat genau das Gleiche wie sie: saß mit angezogenen Knien auf den kalten Fliesen des Badezimmers, mit dem Rücken an der Tür. Seine Hände hatten sich jedoch nicht zur Faust geballt, sondern hielten locker etwas in ihnen. Die scharfe Klinge des blanken Messers drückte sich kalt und hart in seine rechte Handfläche, mit der es hielt.
So saßen beide Stiefgeschwister Rücken an Rücken nur durch eine Tür getrennt, an einander und dachten an den jeweils anderen.
Leise begann Jayden zu murmeln, und er wusste, dass sie es hören würde: „Abby, versprich mir, das du das, was ich dir jetzt sage, für dich behältst, okay? Bewahre es gut auf, denn – ich weiß nicht, wie lange –“ Einen Moment hielt er inne, bevor er seinen Satz von neuem anfing. „Bitte, versprich mir, dass egal was auch passiert, du immer an mich denken wirst. Denn – es gibt Tage, da habe ich Angst – Angst –“
Abigail an der Tür hatte seiner ruhigen Stimme gelauscht, während sie sie Augen geschlossen hielt. Die letzten Sätze nahm sie ruhig in sich auf, während ihr Herz jedoch heftig zu rebellieren schien und sie, aus welchem Grund auch immer – seine Gedankengänge zu Ende sprach.
„ – all die Farben zu vergessen, die du mir je gabst! Jayden, ich verspreche dir, dass ich diese Farben niemals vergessen werde und diese Tage auch niemals kommen werden. Ich – lie-“ Doch sie brach ab, als die Tür mit einem Ruck aufgerissen wurde und sie fast nach hintenüber fiel.
Das Gesicht ihres Stiefbruders schwebte nur Zentimeter über dem ihren.